Ceren Türkmen (geb. 1980 in Duisburg) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Sie ist Soziologin und arbeitet, schreibt und doziert zur Geschichte der Arbeitsmigration in Deutschland, (historischer) Rassismus- und politische Migrationsforschung, Neomarxismus & Postkoloniale Kritik, Stadtsoziologie und Kapitalismusforschung. Seit Mitte der 1990er Jahre ist sie aktiv in MSOs und in der NSB. Sie ist Mitglied im politischen Sound-Art-Kollektiv Ultra-red. Ceren Türkmen moderierte am 29. Oktober das Panel “Rassismus & rassistische Gewalt in Deutschland von den 90er Jahren bis heute” der mehrtägigen Konferenz “Als ich nach Deutschland kam”, organisiert durch den International Women Space.

 

Diskussion Neue Klassenpolitik in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus, Rechtspopulismus und autoritärem Rassismus

Von Ceren Türkmen – Crossposting von ak – analyse & kritik

 

Antirassist_innen, Internationalist_innen und Migrant_innen kämpfen gegenwärtig mit einer zentralen Herausforderung: Eine neue Konjunktur des Rassismus hat sich etabliert – im Rahmen des rechtspopulistischen Projekts nach und trotz der Aufdeckung des NSUs, dem Sommer der Migration 2015 und generationenübergreifender Kämpfe von Migrant_innen seit den 1970er Jahren.

Die neue Konjunktur ergibt eine widersprüchliche Situation im autoritären Neoliberalismus. Historisch hat es auf aktivistischer Ebene noch nie so viel Antirassismus in Deutschland gegeben – und dennoch erleben wir derzeit eine Schwächung antirassistischer Politiken und rassismuskritischer Analysen, Positionen und Organisierungen. Strukturell spaltet etwa das Asylgesetz II mit zahlreichen Asylrechtsverschärfungen verschiedene Gruppen von Geflüchteten. (ak 617) Auf politischer Ebene findet eine kulturpolitische und identitätspolitische Fragmentierung innerhalb linker Diskussionen statt, die zwischen sozialen Kämpfen einerseits und antirassistischen, feministischen Identitätskämpfen andererseits trennt. Die Debattenbeiträge, die nach wie vor nicht erkannt haben, dass antirassistische Kämpfe als Erweiterung und Internationalisierung von Klassen- und sozialen Kämpfen erfasst werden müssen, hinken den historischen Kämpfen und Wissensproduktionen von Migrant_innen und Internationalist_innen hinterher und sie gefährden aktuelle Kämpfe und Errungenschaften von links.

Erfolgreiche Organisierungen von unten

Einige Initiativen haben in ihren Kämpfen und Diskussionen der vergangenen Jahre Forderungen für eine gerechte Gesellschaft gestellt – nicht nur für Migrant_innen, sondern für alle. Die gesellschaftlichen Lebensbedingungen sollen sich aus der »Gesellschaft der Vielen« für die Vielen verändern, gerecht und gleichberechtigt gestaltet werden, bekräftigte das bundesweite Bündnis zur Aufklärung der NSU Morde. Dazu hatte sich das Bündnis gezielt mit Betroffenen rassistischer Morde und solidarischen Antirassist_innen zusammengesetzt und mühsam heterogene und transkulturelle politische Räume und Kulturen geschaffen. Bei der Mietergemeinschaft Kotti & Co in Berlin sind Nachbar_innen mit Aktivist_innen, Kunst-, Kultur- und Wissensproduzent_innen zusammengetroffen und haben für bezahlbare Mieten im sozialen Wohnungsbau protestiert. Der International Women Space organisiert sich selbst und seine politischen Aktionen gezielt in einer heterogenen Zusammensetzung zwischen geflüchteten Frauen, Aktivist_innen, Übersetzer_innen und Kulturschaffenden. Mit dieser bewegungs- und basisorientierten Perspektive gelang es den Initiativen innerhalb ihrer Allianzen, eine populare Organisierung »von unten« voranzutreiben und feministische, stadtpolitische, antirassistische und antifaschistische Politik jenseits von Parteien, Institutionen und traditionellem linken Gruppenaktivismus zu schaffen.

Dem entgegen stehen Versuche eines »national-sozialen Linkspopulismus« im Sinne Sahra Wagenknechts und vieler weiterer, die der dringend notwendigen Frage nach einem universellem Gesellschaftsprojekt mit gleichen Rechten für Migrant_innen mit nationalen Antworten und ideologischen-politischen Ausschlüssen begegnen. Das Fehlen einer linken-kritischen sozialen Migrationspolitik hat während der »Gastarbeitszeit« bereits zu einer »Ausländerforschung« geführt, in der Migrant_innen und Geflüchtete als kategorische Probleme erschienen sind. Eine Wiederholung scheint angesichts des aktuellen Rechtsrucks und der fragmentierten Linke, die dem Rassismus kaum ein solidarisches Gegenprojekt anbieten kann, nicht ausgeschlossen. Allerdings schwächt das die Linke selber, da durch den Rassismus eine, wie Keeanga-Yamahtta Taylor es formuliert, anhaltende Nivellierung »weißer Klassenwidersprüche« durch Rassismus stattfindet. (ak 627)

Es ist nur die halbe Wahrheit, wenn Traditionslinke in Anlehnung an Didier Eribon behaupten, dass das Vergessen der Klassenfrage und die neoliberale »Umverteilung« von unten nach oben dazu geführt habe, dass die »Globalisierungsverlierer« nun rechts wählten. Diesem Narrativ stelle ich aus der Perspektive der Migration und der unzähligen sozialen Kämpfe gegen Grenzen, Ausbeutung und Enteignung ein gänzlich anderes gegenüber: Es gibt auch eine »Legitimationskrise des Neoliberalismus« innerhalb der migrantischen Bevölkerung, innerhalb der migantischen Fraktionen der Klasse. Diese beklagt nicht nur als mehrfach Diskriminierte im Neoliberalismus in strukturelle langfristige Prekarität gerückt worden zu sein, sondern auch den Rassismus in der Gesellschaft im selben Moment. Eine linke Politik ohne ihre Positionen ist keine populare Politik, geschweige denn eine internationalistische.

Neue Klassenpolitik, Rassismus und Migration

Für eine Neue Klassenpolitik bedeutet das vor allem, den Dualismus zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik politisch zu lösen. Innerhalb der internationalen Debatten reicht es nicht aus, den konzeptuell und moralisch wohlwollenden Hinweis zu wiederholen, dass eine »Neue Klassenpolitik« intersektional zu denken sei. Selbst in dieser Absichtserklärung liegt eine Rückfallgefahr zum Hauptwiderspruchsdenken, sofern Migration und Rassismus nur als Prozesse von Klassenspaltungen verstanden werden und umgekehrt aber nicht als strukturierender Teil von klassenpolitischen Auseinandersetzungen und Zusammensetzungsprozessen. Das bedeutet, dass die Kämpfe an der Grenze um Einschluss und soziale Rechte, Kämpfe gegen Lager, gegen das Inländerprimat, gegen die Konkurrenz bei kostenfreien Essenvergabestellen auch als objektive Klassenauseinandersetzungen in einem neuen gesellschaftlichen Projekt von links verstanden werden müssen.

Klassendynamiken lassen sich nicht nur auf den Dualismus zwischen Lohnarbeit und Kapital reduzieren, weil sich Klassen als soziale Verhältnisse nicht nur vertikal, sondern auch horizontal gegenüber stehen. Macht- und Unterdrückungsverhältnisse wie Sexismus und Rassismus durchkreuzen demnach Klassenverhältnisse und manifestieren sie erst innerhalb dieser. Deshalb kann aus einem objektiven Klassenverhältnis noch kein emanzipatives, internationalistisches Klassenhandeln gemutmaßt werden. Denn schließlich können sich prekarisierte migrantische Klassenindividuen als politisches Auseinandersetzungsfeld für antirassistische Initiativen interessieren und sich dort engagieren, weil sie als Migrant_innen weiteren spezifischen Ausbeutungs- und Enteignungsprozessen ausgesetzt sind.

Umgekehrt können Klassenindividuen sich auch für nationalistische Klassenprojekte entscheiden, weil sie sich gegen rassifizierte Fraktionen innerhalb der Klasse abgrenzen möchten. Die Frage zwischen der Klasse als Struktur und sozialen Kämpfen als dynamische Lernprozesse von Solidarität, die erst politisch kollektiv entwickelt werden müssen, ist eine politische und ebenso kulturelle, sinnstiftende Frage. Klassenpolitik stellt in dem Fall keinen Widerspruch zu antirassistischer Identitätspolitik dar, wie es heute gerne innerhalb der zerrissenen Debatte dargestellt wird, sondern sie ist selber Ergebnis eines kollektiven Aushandelns von Identitäts- und Kulturpolitik.

Klassenverhältnisse in der globalen Arbeitsteilung

Was bedeutet das nun in Bezug auf globale Migrationsprozesse? In jeder historischen Phase des Kapitalismus hat sich das Klassenverhältnis auch im Rahmen der postkolonialen globalen Arbeitsteilung bestimmt. Die Migration von Menschen geschah historisch und geschieht aktuell vor dem Hintergrund des globalen (post)kolonialen Kriegs-Kapitalismus. Die Krise, die der Sommer der Migration ausgelöst hat, hängt mit diesem historischen Umstand zusammen. »Wir sind hier, weil Ihr da wart«, heißt es in migrationspolitischen Protesten. Migrant_innen verlangen mit ihrem Protest an der Grenze des europäischen Grenzregimes nicht nur Bewegungsfreiheit, sondern auch das Recht, Bürgerrechte besitzen und als Menschen und in Frieden (über) leben zu können. Dadurch delegitimieren Migrant_innen mit ihrer Einforderung auf politische und soziale Rechte die wohlfahrtsstaatliche Verbindung zwischen Parteien und Gewerkschaften mit dem Nationalstaat. Die Rassifizierung der globalen Ware Arbeitskraft war immer Teil der modernen kapitalistischen Klassenauseinandersetzungen. Stuart Hall spricht in dem Zusammenhang davon, dass Rassismus auf der abstrakten Ebene des Kapitalverhältnisses die gesamte »Klasse« in Bewegung setzt. Er formulierte genauer: »Denn Rassismus ist auch eines der Medien, durch das die weißen Fraktionen der Klasse ihre Beziehungen zu anderen Fraktionen und damit zum Kapital selbst leben. (…) Der ideologische Klassenkampf ist gerade dort am wirkungsvollsten, wo er die internen Widersprüche der Klassenerfahrung mit dem Rassismus artikuliert und so die beherrschten Klassen für das Kapital nutzbar macht.« (1)

Satnam Virdee bringt in einer neuen historiographischen Publikation diese internationalistische Geschichte von sozialistischen Kämpfen zum Ausdruck und zeigt, dass antirassistische und internationalistische politische Projekte immer auch Teil von Klassenkämpfen und Klassenorganisierungen gewesen sind. (2) Vor allem waren es in der Regel »multikulturelle Kämpfe«, die sich gegen Nationalismus, »Rassifizierung« und die Bindung von Klassenfraktionen auf politischer Ebene an die Nation, das Empire und »Weißheit« gewendet haben. Für Migrant_innen und ihre autonomen Kämpfe stellt der Faktor »race« vielmehr das soziale Verhältnis dar, durch das sie »Klassenerfahrungen« machen. Nicht umgekehrt. Und gerade das hat die Linke bisher zu wenig betont.

Eine internationalistische linke Gegenerzählung muss hier ansetzen, und das spezifisch rassistisch organisierte Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis nicht als beiläufiges Phänomen, sondern als zentrales benennen.

Genau diese Erfahrungen in den 1980er Jahren haben marxistische Antirassist_innen und Migrant_innen von sozialistischen Politiken Abschied nehmen lassen. Stattdessen haben sich Traditionslinien entwickelt, die heute als Identitätspolitiken diskreditiert werden. Dabei waren die antirassistischen Kämpfe und Organisierungen der 1980er und 1990er Jahre Erweiterungen des Klassenterrains aus migrantischer Perspektive und dringend notwendig, um gegen die rassistische Repression, den strukturellen Ausschluss und die rassistische Gewalt zu kämpfen, Widerstand zu leisten, Räume zu schaffen – und Migrant_innen, ihren Körpern, Biographien und Lebenswegen überhaupt erst einmal etwas Raum zum Luft holen zu geben.

Ceren Türkmen schrieb in ak 617 über die neuen Widersprüche im sogenannten Einwanderungsland Deutschland.

Anmerkungen:

1) Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 133.

2) Satnam Virdee: Racism, Class and the Racialized Outsider. Bashingstoke 2014.

Crossposting von ak – analyse & kritik