Migrationsrat Berlin – International Women* Space https://iwspace.de Feminist, anti-racist political group in Berlin Thu, 18 Apr 2024 08:53:15 +0000 en-US hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://iwspace.de/wp-content/uploads/2022/11/cropped-hand-purple-small-32x32.png Migrationsrat Berlin – International Women* Space https://iwspace.de 32 32 Wir fordern einen Koalitionsvertrag mit expliziten antidiskriminierungs- und vielfaltspolitischen Maßnahmen https://iwspace.de/2023/03/koalitionsvertrag-mit-expliziten-antidiskriminierungs-und-vielfaltspolitischen-masnahmen/ Fri, 17 Mar 2023 23:14:34 +0000 https://iwspace.de/?p=76490 Offener Brief an die verhandelnden Parteien

Zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen fordern einen Koalitionsvertrag mit expliziten antidiskriminierungs- und vielfaltspolitischen Maßnahmen. 

Liste der Unterzeichner*innen s.u.

Berlin, 18. März 2023. Berlin ist die Stadt der Vielfalt. In den letzten zwei Legislaturperioden hat die R2G Koalition wichtige Bausteine gelegt, um Diversitätsorientierung, Vielfalt, Antidiskriminierung, Gleichstellung und Empowerment in unserer Stadt strukturell zu stärken. Viele Entwicklungen sind auch durch das Engagement von Berlin, bspw. zur AGG-Novelle, PartMigG, zum Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und dem Selbstbestimmungsgesetz, von bundesweiter Bedeutung. Der Wahlkampf und die Sondierungen lassen leider vermuten, dass es zu einem Rückschritt kommt. Wir machen uns große Sorgenum die Zukunft unserer pluralen Berliner Stadtgesellschaft und die vielen Errungenschaften, die in den letzten Jahren erarbeitet wurden und strukturell zu spürbaren Verbesserungen beigetragen haben.

Wir werden SPD und CDU an ihrem Koalitionsvertrag und dessen Umsetzung messen. Lassen sie Vielfalt und Antidiskriminierung als gesellschaftspolitische Themen unter den Tisch fallen, nur um eine Koalition einzugehen, oder gelingt es die fast 1,5 Millionen Berliner*innen mit Einwanderungsgeschichte angemessen zu berücksichtigen sowie inhaltlich und in der Förderung zu repräsentieren? Eine wirksame Antidiskriminierungspolitik liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Sie betrifft die unterschiedlichen Geschlechter genauso wie die Queere Community, Menschen von Jung bis Alt, mit Behinderung oder Einwanderungsgeschichte. 

Wir werden genau verfolgen, ob der Koalitionsvertrag durch unkonkrete Füllwörter gekennzeichnet ist, die weder durch signifikante Maßnahmen, gesetzliche Vorhaben oder Haushaltsmittel hinterlegt sind. Wie spezifisch wird die Regierung Vielfalt, Antidiskriminierung, Gleichstellung und community-spezifisches Empowerment benennen und konsequent stärken?

Das Ressort Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung ist in der Vergangenheit und insbesondere im letzten Jahr einen vielversprechenden  Weg gegangen, der weiter geführt werden muss, da er einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, der Antidiskriminierungsrecht als Recht aller begreift..

Als Bewertungsmaßstab dienen die wichtigen Vorhaben der letzten Legislaturperiode aus dem Koalitionsvertrag von 2021, sofern sie noch nicht umgesetzt wurden, sowie laufende fachliche Entwicklungen (siehe Seite 2).

Kontakt für Rückfragen:

Migrationsrat Berlin

Ed Greve, Referent für Antidiskriminierung

Mobil: 0176 99114943

E-mail: ed (punkt) greve [at] migrationsrat.de

Bewertungsmaßstab für eine diversitätsorientierte Koalitionsvereinbarung

Partizipationsgesetz

  • Entwicklung einer Umsetzungsstrategie des Gesetzes binnen eines Jahres
  • Einsetzung eines Steuerungskreis beteiligter Senatsverwaltungen unter Federführung der für Integration zuständigen Senatsverwaltung
  • Begleitung des Prozesses durch die Migrationsbeauftragte und den Landesbeirat für Partizipation
  • Beteiligungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft
  • Evaluation in 2024 zur Prüfung der Weiterentwicklungsmöglichkeiten und zur Feststellung einer möglichen Notwendigkeit von verbindlichen Instrumenten
  • Im Bund setzt sich die Koalition (mit einer Bundesratsinitiative) für ein entsprechendes Bundespartizipationsgesetz ein.
  • Alle Gremien und Kommissionen sowie Runden der Partizipation bleiben erhalten
  • Der im Parlamentsverfahren befindliche Antrag zum Wahlrecht für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft auf kommunaler und Landesebene wird abgeschlossen und im Rahmen landesrechtlicher Möglichkeiten auf eine Umsetzung hingewirkt sowie eine entsprechende Bundesratsinitiative in den Bundesrat eingebracht.
  • Berlin setzt sich im Bund für die Zulassung der Mehrfachstaatlichkeit ein und wird Spielräume für Ausnahmen bei der Lebensunterhaltssicherung und Sprachkenntnissen nutzen und das zu schaffende Landeseinbürgerungszentrum in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft diversitätsorientiert und diskriminierungskritisch aufstellen.

 Landesdemokratiefördergesetz

  • Die Koalition erarbeitet mit zivilgesellschaftlichen Trägern ein Landesdemokratiefördergesetz, um das Engagement von zivilgesellschaftlichen Projekten und Initiativen insbesondere im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit, Demokratieförderung, Opferberatung und des Empowerments langfristig abzusichern.

 Antidiskriminierung

  • Ausbau des „Landesprogramm Demokratie. Vielfalt. Respekt. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“
  • Verstetigung der Antidiskriminierungs-,Beratungs- und Empowermentstrukturen der Zivilgesellschaft.
  • Dabei steht die intersektionale Perspektive im Vordergrund.
  • Fortführungen des Berlin-Monitor im zweijährigen Turnus
  • Fortentwicklung des Diversity-Landesprogramm und Verstetigung erfolgreicher Maßnahmen
  • Einführung von unabhängigen diskriminierungskritischen Untersuchungen der internen Organisationsstrukturen und -abläufe, der Personalentwicklung sowie die Implementierung von Antidiskriminierungs- und Diversitätsstrategien in allen Verwaltungen und ein datenbasiertes Monitoring.
  • Einführung eines „Diversitäts-Check“ in allen Verwaltungen
  • Erhaltung der neu errichteten Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und Errichtung der geplanten Fachstelle gegen Diskriminierung im Gesundheitssektor
  • Auf Bundesebene setzt sich die Koalition dafür ein, dass das Antidiskriminierungsrecht novelliert und im Hinblick auf öffentlich-rechtliches Handeln erweitert wird. Der bereits ins Abgeordnetenhaus eingebrachte Antrag der letzten Legislatur wird beschlossen und die Bundesratsinitiative in den Bundesrat eingebracht.
  • Evaluation und Weiterentwicklung des Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) unter Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen im Jahr 2024
  • Die LADG-Ombudsstelle wird in ihrer Verwaltungsunabhängigkeit gestärkt.
  • Im Rahmen der Evaluation wird geprüft, inwieweit die LADG-Ombudsstelle ein Initiativrecht erhalten kann.
  • Weitere Stärkung und Unabhängigkeit der Ombudsstelle (mit Erweiterung der Rechte und mindestens Gleichstellung mit Rechten des Polizei- und Bürgerbeauftragten, der nicht für Diskriminierung zuständig sein darf) sowie Umsetzung einer Unabhängigen Beschwerdestelle für Schulen.
  • Novelle des LADG, gemeinsam mit Zivilgesellschaft, um Rechtslücken zu schließen
  • Einführung und Evaluation eines „Fonds zur Unterstützung Betroffener extremistischer Gewalt“
  • Zum Schutz vor Diskriminierung im Netz wird die Koalition digitale Prävention und Opferhilfe durch modellhafte Projekte mit innovativen medienpädagogischen Ansätzen weiterentwickeln und stärken.
  • Einsetzung einer am Parlament angesiedelten Enquete-Kommission gegen Rassismus und Diskriminierung um unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Expert*innen strukturellen Rassismus und Diskriminierungen in Gesellschaft und staatlichen Einrichtungen aufzudecken und Gegenmaßnahmen zu entwickeln.
  • Die Handlungsfelder der Antidiskriminierung werden u.a. erweitert um Bildung, Gesundheit, EU-Antidiskriminierungspolitik, Zugang zum Recht, juristische Ausbildung
  • Alle Fachstellen müssen erhalten und die Fachstellen in der momentanen Entwicklung umgesetzt werden
  • Für die Zugänglichkeit der staatliche Strukturen braucht es gleichzeitig Verstärkung der zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen
  • Forderung der Standards der Landesantidiskriminierungspolitik gelten auch in den Bereichen Bildung, Arbeit, Gesundheit, Inneres, Wohnen, Kultur, Justiz (siehe Reform der juristischen Ausbildung und Digitalisierung) usw; auch hier darf es in keinem Bereich ein Zurückfallen geben
  • Die Verwaltungsreform muss auch Zugänglichkeit, Antidiskriminierung, Inklusion usw mitdenken und in Umsetzung bringen
  • Keine Kriminalisierung von Armut, stattdessen effektive Verfolgung von White Collar Crime (siehe Ersatzfreiheitsstrafen)
  • Keine Diskriminierung in BVG und S-Bahn
  • Diversitätssensibele Organisationsentwicklung in der Verwaltung selbst
  • Der eingeschlagene Weg des stetigen Aufstockens  im Bereich der Projektförderung durch die LADS wird weitergeführt und Mittel werden entsprechend den Bedarfen der Antidiskriminierungsprojekte jährlich angepasst 
  • Winterabschiebestopps und das Ausnutzen aller Landesspielräumen für ein Bleiberecht
  • Machbarkeitsstudie zur City ID und Einführung bei Machbarkeit
  • Keine Abschiebung nach Moldau bzw. Berlin wird alle Möglichkeiten nutzen, um Angehörigen dieser Gruppe ein humanitäres Bleiberecht zu erteilen
  • Umsetzung UNBRK, Barrierefreiheit überall
  • Der Wohnberechtigungsschein wird ausgeweitet auf Geflüchtete, unabhängig von der Dauer des Aufenthaltsstatus

Gruppenspezifische Förderung

Rom*nja und Sinti*zze

  • Um Partizipation und Communitybuilding von Romn*nja und Sinti*zze zu fördern sowie Antiziganismus entgegenzutreten, wird der „Beirat für Angelegenheiten von Rom*nja und Sinti*zze“ gegründet
  • Die Koalition überführt den „Aktionsplan Roma“ in ein Landesprogramm zur Stärkung der Teilhabe von Rom*nja und gegen Antiziganismus gemäß den Evaluationsergebnissen des Aktionsplans.
  • Es wird eine Ansprechperson zur Bekämpfung von Antiziganismus benannt.
  • In der pädagogischen Aus- und Weiterbildung sowie in Rahmenlehrplänen werden rassismuskritische Kenntnisse über Geschichte und Gegenwart von Sinti*zze und Rom*nja und Antiziganismus stärker und verbindlicher vermittelt.
  • Die Koalition wird der Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja am Wohnungs- und Arbeitsmarkt aktiv entgegentreten. Für Rom*nja aus Drittstaaten werden spezielle Beratungsangebote mit Sprachmittlung bereitgestellt.
  • Die Ansprechperson zum Themenbereich muss in Partizipation mit den Communities eingesetzt werden
  • Die Förderung muss verstärkt werden
  • Die Arbeit zur Umsetzung des Beirats muss fortgeführt werden
  • Angesichts der historischen Verantwortung Deutschlands für die Gruppe der Sinti*zze und Rom*nja wird sich Berlin für eine bundesweite humanitäre Bleiberechtsregelung für Rom*nja-Flüchtlinge aus Drittstaaten, die schon länger in Deutschland leben, einsetzen.

 Schwarze Menschen

  • Im Rahmen der UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft, werden die im Konsultationsprozess mit der Zivilgesellschaft erarbeiteten Maßnahmen gegen Anti- Schwarzen Rassismus umgesetzt. Die Errichtung eines Schwarzen Community- Zentrums wird, wie bereits beschlossen, gefördert.
  • Einsetzung und Weiterführung der Expert*innenkommission Anti-Schwarzer Rassismus (ASR)
  • Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Umsetzung der mit der UN-Dekade verbundenen Aufgaben a) Gleichstellung von Menschen afrikanischer Herkunft b) Abbau von ASR in die Routinen der Verwaltung und Politik auch nach dem Ende der Dekade

 

Jüdisches Leben

  • Um der Bedrohung von Jüdinnen und Juden entgegenzutreten, wird die Landeskonzeption zur Antisemitismus-Prävention mit der Zivilgesellschaft stetig weiterentwickelt.
  • Novelle Feiertagsgesetz
  • Umsetzung Bestattungsgesetz
  • Ausbau, Förderung Empowerment und Diversität jüdischen Lebens

 Muslimisches Leben

  • Die Expertenkommission zu antimuslimischem Rassismus wird die Koalition fortführen, institutionell verankern und mit ihr eine ressortübergreifende Handlungsstrategie gegen antimuslimischen Rassismus auf den Weg bringen. Sie enthält mindestens Monitoring, eine Sensibilisierungskampagne sowie die Stärkung der bestehenden Beratungs- und Empowermentstrukturen.
  • Das Islamforum wird weitergeführt.

 Gleichstellung

  • Novellierung des Landesgleichstellungsgesetzes
  • Das gleichstellungspolitische Rahmenprogramm wird fortgesetzt und durch eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie ergänzt.
  • Die Koalition wird das Berliner Gender Budgeting konsequent weiterentwickeln.
  • Dazu gehört die Implementierung eines Controllings und Gender Budgeting Referats,
  • Schulungen für die Verwaltungsmitarbeiter*innen sowie ergänzend zur AG „Geschlechtergerechter Haushalt“, die Einrichtung eines Beirats aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
  • Berlinweites Konzept zur Erhebung von Gleichstellungsdaten entsprechend der Dimensionen des Landesantidiskriminierungsgesetzes erarbeiten.

 Queeres Leben

  • Die Koalition wird die „Initiative geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ (IGSV) mit den LSBTIQ*-Communities ausbauen und verankern, Mehrfachdiskriminierung entgegenwirken sowie neue Handlungsfelder erschließen.
  • 2023 wird ein aktualisierter IGSV-Maßnahmenplan verabschiedet.
  • Projektförderung wird noch stärker intersektional angelegt.
  • Maßnahmen werden stadtweit und bezirklich umgesetzt.
  • Zur Weiterentwicklung wirksamer Handlungskonzepte wird eine Studie zur „Wohnungslosigkeit von LSBTIQ*“ in Auftrag gegeben und ein eigenes Projekt zur Unterbringung von wohnungs- und obdachlosen LSBTIQ* auf den Weg gebracht.
  • Die Koalition fördert niedrigschwellige und bezirksübergreifende Angebote zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation für queere Personen mit Migrationsgeschichte, mit oder ohne Fluchterfahrung und unabhängig ihrer Bleibeperspektive.
  • Diese Angebote werden noch stärker in der IGSV verankert.
  • Keine Maßnahme wird zurückgenommen, momentane Entwicklungen fortgeführt, intersektionale LGBTIQ* Fachpolitik weiter gestärkt

Siehe auch: Richtlinien der Regierungspolitik 2021 – 2026 unter https://www.berlin.de/rbmskzl/regierende-buergermeisterin/senat/richtlinien-der-politik/

Liste der Unterzeichner*innen:

 

  • Migrationsrat Berlin e.V. 
  • Each One Teach One (EOTO) e.V.
  • Initiative Schwarze Menschen (ISD) Berlin
  • Flüchtlingsrat Berlin
  • Antidiskriminierungsverband Deutschland e.V.
  • neue deutsche organisationen – das postmigrantische netzwerk e.V.
  • KARAKAYA TALKS
  • Center for Intersectional Justice (CIJ)
  • ADEFRA
  • KIEZconnect e.V.
  • RomaTrial e.V.
  • Bridges over Borders e.V.
  • BIPoC Ukraine & friends in Germany
  • Frauenkreise
  • Space2groW
  • Die Urbane. Eine HipHop Partei
  • Ariba e.V. 
  • International Women* Space
  • Casa Kua
  • Women in Exile
  • Colectivo SVK – Selbstverteidigungskurs mit Worten
  • Anlauf- und Fachstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen und Kitas in Friedrichshain-Kreuzberg
  • Colectivo Qellcay – Dekoloniale Praxis
  • LAFI e.V. Neukölln
  • trixiewiz e.V.
  • deSta – Dekoloniale Stadtführung
  • POWER ME – Stärkung von Kindern gegen Rassismus
  • Berlin Postkolonial e.V.
  • EAF Berlin 
  • tubman.network
  • LesMigraS

 

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Zwischen Unterkunftsuche und Lobbyarbeit https://iwspace.de/2022/05/zwischen-unterkunftsuche-und-lobbyarbeit/ Tue, 17 May 2022 09:19:18 +0000 https://iwspace.de/?p=75881 17. Mai 2022 |ak 682 | Antirassismus & Antifaschismus

Von Laurence Meyer und Mihir Sharma

Fast unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine machten sich Schutzsuchende in den Westen auf – sie gingen nach Polen, in die Slowakei und zu Hunderttausenden nach Deutschland. Unter ihnen waren viele, die rassistisch diskriminiert werden. Ein Bericht aus Berlin, wo sich ein Netzwerk von Organisationen formierte, um Ankunftshilfe zu leisten. 

»Sie mussten stunden-, teils tagelang in der Schlange am Grenzübergang warten, während weiße Ukrai­ne­r*in­nen an ihnen vorbei durchgelassen wurden«, berichtet Jeff Klein von EOTO, einem Berliner Verein, der als Teil eines Nothilfe-Bündnisses am Grenzübergang Medyka in Polen war, der taz.

Rassismus auf der Flucht und danach

Nachdem die Geflüchteten es lebend aus der Ukraine geschafft hatten, kamen viele von ihnen nach Polen. Die dortige Polizei griff gezielt rassifizierte Menschen raus und brachte sie an inoffizielle und unbekannte Orte. Erst nach Protesten von Aktivist*innen, Menschenrechtsorganisationen und Häftlingen, die gegen ihre Ingewahrsamnahme protestierten, sowie dem Erscheinen erster Medienberichte beugte sich die polnische Regierung dem Druck, die Gefangenen freizulassen. Anschließend brachten sich viele Geflüchtete weiter westwärts nach Deutschland in Sicherheit. Doch auch hier bleibt ihre Zukunft aufgrund bürokratischer Hürden und systemischen Rassismus ungewiss.

Während sich infolge des Krieges in Deutschland und ganz Europa Initiativen aus Einzelpersonen, Verbänden und Regierungsorganen formierten, um Menschen, die aus der Ukraine fliehen, zu unterstützen, meldeten schon Anfang März Journalist*innen, Aktivist*innen und Organisationen wie die Afrikanische Union rassistische Diskriminierung auf der Fluchtroute. »Viele dieser Initiativen berücksichtigten nicht die in der Ukraine lebenden Schwarzen und People of Color oder Menschen, die aus der Ukraine flohen, aber nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit besaßen. So haben wir angefangen, uns hier in Berlin zu organisieren«, erzählt Jennifer von International Women* Space ak.

Die Ankunft in Berlin war nicht einfach. »Wir und andere mussten uns darum bemühen, dass Menschen mit multinationalen Familien und Menschen ohne ukrainische Pässe, die aber trotzdem aus der Ukraine fliehen mussten, wie Student*innen oder Arbeiter*innen aus Nigeria, Indien oder Kamerun, auch vom deutschen Staat anerkannt werden, um Anspruch auf ihre Leistungen erheben zu dürfen«, erzählt Iman Abdikarim, eine der Gründer*innen der Ankunftshilfe am Berliner Hauptbahnhof.

In Berlin begann ein Netzwerk aus BPoC-geführten Organisationen (EOTO, Migrationsrat, International Women* Space, ISD, Casa Kuà und das Tubman Network) aufgrund der Berichte über Diskriminierung an den Grenzen mit dem Aufbau von Strukturen, um gezielt BPoC-Personen aufzunehmen und zu unterstützen.

Das Netzwerk richtete in der ersten Woche einen Stand am Berliner Hauptbahnhof ein. Personen, die dort ankamen, wurden dann zu Organisationen wie EOTO umgeleitet, wo Freiwillige und Mitarbeiter*innen den Zugang zu vorübergehenden Unterkünften, rechtliche und finanzielle Unterstützung sowie Kleidung, Bettzeug usw. koordinierten. Freiwillige Fahrer*innen fuhren die Menschen zu den jeweiligen Wohnungen, wo sie meistens nur kurzzeitig bleiben durften. Später entstanden zwei neue Ankunftspunkte, die für eine längerfristige Koordination besser geeignet waren: das Centre Français im Wedding und das Tubman Center in Kreuzberg.

Im Centre Français organisieren sich EOTO, Migrationsrat, International Women* Space und ISD nun gemeinsam. Es gibt eine offene Küche mit Essen und warmen Getränken, ein paar Rechner und Tische und Stühle, die an eine Schule erinnern. Daneben gibt es Räume für private Treffen. Junge Leute, meist junge Männer, versammeln sich hier und da um einen der Laptops und versuchen, mit Hilfe der anwesenden Betreuer*innen eine Unterkunft zu finden. Vicky von EOTO springt von einem Anruf zum anderen und jongliert, so scheint es, zwischen Lobbyarbeit und Verhandlungen mit Hostels, um Schlafplätze zu finden.

Die Organisation Les Migras bietet psychosoziale Beratung an. »Wir haben natürlich versucht zu mobilisieren und so viel wie möglich, mit den verfügbaren Mitteln, eine Art von Solidarität zu leisten, insbesondere für LGBTQI BPoCs, weil sie eine der am stärksten gefährdeten Gruppen sind«, sagte uns Syrine von Les Migras.

Vor allem Schwarze cisgeschlechtliche Männer (1) haben Probleme, eine Unterkunft zu finden. Jennifer Kamau vom IW*S erklärt, warum: »Sie sind junge Menschen, Studenten, die verwirrt und gestrandet sind, aber die rassistischen Stereotypen von Schwarzen Männern und Kriminalität machen es schwer, Unterkünfte zu finden.« Laut einem Social-Media-Beitrag des Tubman Netzwerk scheinen die fehlenden Unterkunftsmöglichkeiten auch darauf zurückzuführen zu sein, dass nicht genügend cisgeschlechtliche Männer Unterkünfte anbieten.

Auf die Frage, ob Deutschland ihrer Meinung nach mit zweierlei Maß misst hinsichtlich der Behandlung von Geflüchteten, stimmten alle ohne zu zögern zu. »Deutschland hat eine Geschichte des Teilens und Herrschens, es ist ein sehr koloniales Konzept. Selbst in der Zeit von 2015, als die Syrer*innen kamen, gab es die guten und die schlechten Flüchtlinge, dieses Mal gibt es den VIP-Flüchtling und dann gibt es die BPoC-Gemeinschaften«, so Jennifer von IW*S. Sulti vom Gesundheits- und Communityzentrum Casa Kuà fügt hinzu: »Es ist toll zu sehen, dass die meisten Menschen, die aus der Ukraine flohen, mit offenen Armen empfangen werden. Gleichzeitig ist es eine Schande, dass Menschen aus Afghanistan oder Syrien nach mehreren Jahren immer noch in Container-Wohnungen leben müssen.« Casa Kuà engagiert sich insbesondere für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre BIPoC-Personen. Menschen aus vielen verschiedenen Ländern kämen hierher, doch »überall in Deutschland sind ukrainische Flaggen zu sehen, aber nirgendwo eine Afghanistan-Flagge oder Palästinenser-Flagge – außer in der Sonnenallee«, sagt Sulti und lacht.

Rechtliche Unsicherheit

Der rassistische Doppelstandard zeigt sich auch in den rechtlichen Rahmenbedingungen, die derzeit in Bezug auf die Fluchtbewegung aus der Ukraine entwickelt werden. Wer sich am 24. Februar 2022 – dem Beginn der Invasion – in der Ukraine aufhielt, braucht bis zum 31. August 2022 keine Aufenthaltserlaubnis für die Einreise und den Aufenthalt in Deutschland.

Menschen, die ohne ukrainischen Pass aus der Ukraine geflüchtet sind, befinden sich derzeit in einem ständigen Zustand der Unsicherheit, was ihre Wohn-, Bildungs-, Arbeits- und Aufenthaltssituation betrifft. Während Inhaber*innen eines ukrainischen Passes gemäß der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz Zugang zum Schulsystem, zur Familienzusammenführung und zum Arbeitsmarkt garantiert wird, ist die Rechtslage für Drittstaatsangehörige, insbesondere für diejenigen, die nicht bereits in der Ukraine als Flüchtlinge oder Asylberechtigte anerkannt wurden, unklar. Pro Asyl rät derzeit deutlich davon ab, einen Asylantrag zu stellen, bis sich die Situation geklärt hat.

Die Regeln ändern sich so häufig, dass es selbst für die unterstützenden Organisationen schwierig ist, ihnen zu folgen. Die Räumlichkeiten des Centre français sind nicht direkt für eine Rechtsberatung vorgesehen, aber die Aktivist*innen »stellen die Verbindung dafür her«, sagt Rajaa von der Ankunftshilfe. Syrine von Les Migras fügt hinzu: »Der Anwalt hat gestern gesagt, dass wir immer noch keine klare Antwort haben. Wir warten immer noch darauf, dass das Innenministerium die Verfahren klärt, weil sie bis jetzt immer noch unklar sind und die dreimonatige Aufenthaltsgenehmigung bald ausläuft.«

Die Situation für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre BIPoCs ist besonders schwierig. »Sie werden mit den bestehenden und intersektionalen Unterdrückungen von Rassismus, Transphobie, Flüchtlingsfeindlichkeit in Deutschland konfrontiert«, erzählte uns Alex von Casa Kuà. »Sie haben mit der strukturellen Transfeindichlichkeit des medizinischen System, was Hormone, Medikamente und Pflege angeht, zu kämpfen, geraten aber auch in Schwierigkeiten mit den Behörden wegen abweichenden Namen auf Dokumenten, wegen Angaben unter Geschlecht in unterschiedlichen Kontexten und weil das System nicht für sie gedacht und gemacht ist. Bis sie ihren Weg zu uns finden, wurden sie in der Regel schon mehrmals von Sozialarbeiter*innen und Polizist*innen diskriminiert, die eigentlich dafür angestellt sind, ihnen zu helfen.« Auch mit den Gastgeber*innen, die ihr Angebot zurückziehen, sobald sie merkten, dass die Person Schwarz oder Person of Colour sei, gebe es Probleme.

In der letzten Märzwoche veröffentlichten afrikanische und andere internationale Studierende, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen waren, einen offenen Brief an deutsche und EU-Behörden, in dem sie die Erfüllung des Gleichstellungsversprechens als Flüchtlinge aus der Ukraine forderten. Sie verwiesen auf ihren Ausschluss von der Grundversorgung nach ihrer Flucht und forderten das Recht auf Studium, Arbeit und Sozialleistungen, die ukrainischen Passinhaber*innen gewährt werden, nicht aber anderen, die aus der Ukraine fliehen.

Aktivist*innen, die sich für die Unterstützung von BIPoC-Flüchtlingen einsetzen, befinden sich in einer angespannten Lage. Viele Dienste werden von Freiwilligen betrieben, und der Bedarf an Unterstützung ändert sich ständig. Die doppelte Belastung durch die Bereitstellung von Ressourcen wie Lebensmitteln, Unterkunft und Materialien für den Lebensunterhalt bei gleichzeitiger Kampagnen- und Lobbyarbeit bleibt eine der größten Herausforderungen für die Netzwerke. Alex von Casa Kuà kommentiert die Situation vor Ort so: »Momentan haben wir viele Anfragen nach psychologischer Beratung, morgen werden es vielleicht Deutschkurse sein, die wir versuchen werden zu organisieren – aber die Frage bleibt, wie Menschen ein Leben beginnen können, wenn sie sich in einem ständigen Ausnahmezustand befinden mit keinerlei Ende in Sicht.«

Laurence Meyer

ist Juristin und Leiterin des Bereichs antirassistiche- und soziale Gerechtigkeit beim Digital Freedom Fund. Sie ist Teil des Magazins AssiégéEs und Mitbegründerin des Filmfestivals Ẅ XOOL (wou Rol), das sich an afro-deszendente Frauen und nicht-binäre Filmemacherinnen in Frankreich richtet Mihir Sharma

ist Mitglied der Arbeitsgruppe Anthropologie globaler Ungleichheiten bei der Bayreuth International Graduate School for African Studies (BIGSAS) und lehrt an der Universität Bayreuth. Er schreibt zu Anti-Rassismus, politischer Ökonomie und sozialen Bewegungen.

Anmerkung:

1) Das Adjektiv »cis« bezeichnet Menschen, die sich mit der Geschlechtsidentität identifizieren, die sie bei ihrer Geburt zugewiesen bekommen haben.

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