Denise Garcia Bergt

Die Aktivistin und Filmemacherin Denise Garcia Bergt zu den (Er-)Folgen des Geflüchteten-Camp auf dem Berliner Oranienplatz, zum Umgang mit Rassismus in der Bewegung und zur Frage, warum Dolmetscher manchmal wichtiger sind als Resolutionen und Programme. 

Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen. Bis Ende Juni 2017 veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.

Günter Piening: Das Camp auf dem Oranienplatz, die Zelte auf dem Weißekreuzplatz in Hannover, die Märsche nach Berlin und Brüssel – alles Geschichte. Die Akteur*innen sind in Notunterkünften und Heimen isoliert oder kriminalisiert oder untergetaucht. Hat es sich gelohnt? Was haben die Aktionen gebracht?

Denise Garcia Bergt: Erstens: Sichtbarkeit. Vor diesen Kämpfen war Solidaritätsarbeit weitgehend eine Arbeit ohne Geflüchtete. Durch die Aktionen sind sie selber als Akteure wahrgenommen worden. Das hat die Unterstützerbewegung verändert. Heute ist es kaum noch legitim, eine Aktion oder eine Veranstaltung zum Thema ohne die Beteiligung von Geflüchteten selbst zu machen. Heute gibt es viel mehr gedolmetschte Veranstaltungen, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste. Die Erkenntnis, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Geflüchten ist, hat den linken Alltag verändert.

Zweitens: Die Kämpfe haben sehr viele junge Leute gerade aus dem Umfeld der Linken aktiviert – und auch qualifiziert. Zum Oranienplatz kamen Menschen, die etwas gesucht haben, für das zu kämpfen sich lohnt. Die meisten sind groß geworden in der Behütetheit dieser deutschen Gesellschaft mit all ihrem Überfluss. Und dann sind plötzlich diese Refugees da, mit denen sie «was» machen wollen. Da ist sehr viel Verständnis über sich und die Welt und sehr viel Kompetenz für politische Arbeit entstanden, Verständnis auch dafür, dass dieses nicht Arbeit für die «armen Flüchtlinge» ist, sondern für einen selbst. Auf dem Oranienplatz wurde mehr gelernt als in jeder deutschen Schule.

Auf dem Oranienplatz wurde mehr gelernt als in jeder deutschen Schule.

Auch über den Umgang mit Rassismus…?

Koloniales Denken und Rassismus spielen eine große Rolle. Das zeigte sich häufig ganz schlicht an fehlendem Respekt. Da ist diese ältere Frau, die es geschafft hat, den Verhältnissen in Nigeria zu entkommen, die große Wüste und das gefährliche Libyen zu durchqueren, dann diese Scheiß-Grenze zu überwinden, immer bedroht von Gewalt und Zwangsprostitution  – und dann kommt ein Mädchen, das es vielleicht gerade mal aus der deutschen Provinz in die Großstadt geschafft hat und behandelt diese Frau, als sei sie ein Kind, das nicht wüsste, wie es um die nächste Straßenecke kommt.

Auch im Umgang mit Sprache zeigte sich Respektlosigkeit. Die Sprachbarriere ist eine sehr praktische Barriere, die zu überwinden sehr zeitfressend und nervenaufreibend ist. Aber das ist Voraussetzung für Austausch. Und dann werden Geflüchtete zu Aktionen und Veranstaltungen eingeladen, bei denen es keinen Dolmetscher gibt! Für mich ist das bullshit, nur Legitimation für eine Geldausgabe und für den Foto-Nachweis, dass man etwas Gutes «für Flüchtlinge» gemacht hat. Wir müssen den Leuten, die wir einladen, die Möglichkeit geben, jedes Wort zu verstehen. Dann können sie überhaupt erst verstehen, mit wem sie eine Allianz bilden sollen.

Wie haben Sie als jemand, die in Brasilien groß geworden ist, die Thematisierung von Rassismus in der linken Bewegung in Deutschland erlebt?

Wenn das thematisiert wurde, dann meistens in Eurer typisch deutschen, elitären, akademischen Form, die ich mir nur dadurch erklären kann, dass Ihr den Umgang mit diesen Unterschieden nicht gewohnt seid. Da sucht man erst nach Begriffen – «Diese hier ist sicher ein POC.»  «Aber ist dieser Mann noch POC oder doch schon weiß?» – bevor man anfängt, konkret was zu machen. Unglaublich viel Zeit wurde mit solchen Fragen verbracht. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass gerade linke Leute regelrecht besessen waren von dieser Farbsache und vor der Angst, rassistisch zu sein – und darum absurderweise den Kontakt mit den Geflüchteten ganz gemieden haben. Die gleiche Panik erlebe ich oft in den Augen von Menschen, wenn sie englisch sprechen sollen. Sobald ihr unsicher werdet, müsst ihr erst mal diskutieren, damit ihr wieder auf sicheres Terrain kommt. Das scheint eine Art linke German Angst zu sein. Brasilien ist nun wirklich nicht frei von  Rassismus, aber wir gehen anders damit um. Man setzt sich zusammen, redet, hört zu, nennt die Dinge beim Namen.

Sie waren Teil des Frauenblocks auf  dem Oranienplatz. Wie ist die Situation der geflüchteten Frauen heute?

Der Oranienplatz war sehr männerdominiert. Es war wie überall: Die Männer reden immer   – egal wie viel Frauen da sind. Der Zusammenschluss der Frauen war sehr wichtig, um sich Raum zu verschaffen. Auch in der besetzten Schule, in die ein Teil der Oranienplatz-Leute wechselten, haben wir die Frauenetage aufgebaut. Für die, die auf die Notunterkünfte verteilt wurden, wurde es schwierig, den Zusammenhang aufrecht zu erhalten. Uns wurde der Zutritt zu den Heimen verwehrt.

Die Gruppe, die weitergearbeitet hat, hat sich zunächst auf die Dokumentation der Erfahrungen geflüchteter Frauen und ihrer Forderungen konzentriert. Wir versuchen auch, wichtige Materialien mehrsprachig herauszubringen, damit sie von den Geflüchteten genutzt werden können. Das wäre auch eine Anforderung z.B. an die Linke. Publikationen, z.B. über die Geschichte der sozialen Kämpfe auch für die Refugees zugänglich zu machen.

Aktuell gibt es eine sehr spannende Entwicklung. Bei uns machen auch Frauen der Gastarbeitermigration mit – Kurdinnen, Polinnen und andere. Der Austausch zwischen alter und neuer Migration ist ein wichtiges Element von Empowerment. Damit die Newcomerinnen handlungsfähig werden, müssen sie wissen, was für Auseinandersetzungen es gegeben hat, um Wohnungen, um Arbeit, um Frauenrechte.

Es hat eben nicht alles begonnen mit dem Camp auf dem Oranienplatz. Nein, es gab eine Menge Dinge vorher, die die Bedingungen geschaffen haben, dass dieser Ort diese Bedeutung für die Geschichte der Refugee-Bewegung bekommen konnte.

Anmerkung: Zur Bedeutung des Oranienplatzes und zur Aktualität der Kämpfe: http://oplatz.net

(Das Interview fand statt am 23.1.2017)

Denise Garcia Bergt ist Aktivistin, Journalistin und Filmemacherin. Sie wurde in Brasilien geboren und zog 2008 nach Berlin, wo sie begann, am Dokumentarfilm «Residenzpflicht» zu arbeiten.  Sie war aktiv in der «Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen» und im Camp auf dem Berliner Oranienplatz. Im Dezember 2012 gründete sie zusammen mit anderen Aktivistinnen den International Women’s Space in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin, die von Geflüchteten und Aktivist*innen besetzt wurde. Ende 2015 gab sie das Buch «In Unseren Eigenen Worten» mit Texten von und über Frauen heraus.