Liebe Freund*innen,

wir senden euch in dieser außergewöhnlichen Zeit unsere Liebe, virtuellen Umarmungen und herzlichen Wünsche. Während viele Gemeinschaften und Menschen auf der ganzen Welt versuchen zu verstehen, wie auf diese globale Pandemie zu reagieren ist, kämpfen Revolutionär*innen auf der ganzen Welt weiterhin gegen eine Rückkehr zum so genannten Normalzustand. Denn wir sind uns bewusst, dass der globale Kapitalismus, der auf Ausbeutung, Ungleichheit und Individualismus beruht, nie normal war.

Auch wenn die Verhinderung politischer, kultureller und religiöser Anlässe aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge die Menschen daran gehindert hat, physisch zusammenzukommen, haben viele Menschen Beziehungen wieder aufgebaut und weiterentwickelt, die oft durch einen hochproduktiven, auf Profit ausgerichteten Lebensstil gefährdet sind, und Platz für sinnstiftende Diskussionen geschaffen. Wir wollen einen Beitrag zu diesen Diskussionen und der Suche nach einem Umgang mit der Corona-Pandemie leisten, indem wir ein wenig von unseren Arbeiten und Initiativen, die wir entweder selbst gestartet haben oder die wir unterstützt haben, erzählen. Wir halten es für wichtig, dass Frauen die Arbeit, die sie tun, um sich gegenseitig zu unterstützen, miteinander teilen. Wir hoffen so Inspiration zu geben, eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln und Schritte in Richtung einer besseren Zukunft zu gehen.

Die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans betonen in ihrer Bewertung des Umgangs der Staaten mit der Corona-Pandemie insbesondere die Auswirkungen auf Frauen: „Wir befinden uns nicht alle im selben Boot. Und wir sind nicht alle im gleichen Maß verantwortlich für diese Krise. Wir besitzen auch nicht dieselben Möglichkeiten, um uns vor dem Virus zu schützen. Hauptverantwortliche dieser Krise sind das globale Finanzkapital sowie die Nationalstaaten, die die Kontinuität des Gesetzes des maximalen Gewinns sicherstellen. Einmal mehr hat sich deutlich gezeigt, dass es den Staaten primär nicht um Gesundheit und Bedürfnisse der Bevölkerung, sondern des globalen Kapitals geht. Aus diesem Grund steht auf der Agenda der Regierungen auch nicht eine soziale Gesundheitspolitik, welche die großen Verwüstungen des Neoliberalismus im Gesundheitsbereich aufheben kann, sondern es wurden in Zeiten der Covid-19-Pandemie neue Gesetze zur weitgehenderen Ausbeutung von Gesundheitsfachkräften erlassen. Während diese Regierungen einerseits Gesundheitspersonal beklatschen, um diese Realität zu vertuschen, führen sie andererseits zum Tod von Medizinern und Krankenpersonal, da sie unter ungeschützten Bedingungen arbeiten müssen. Bisher haben Hunderte Ärzt*innen, Pfleger*innen und Gesundheitsfachkräfte ihr Leben verloren, da sie sich selbst angesteckt haben, während sie Kranke behandelten. Alte Menschen, die vom System als Last gesehen und auf die deshalb verzichtet werden kann, werden in Altersheimen dem einsamen Tod ausgeliefert. Die Parolen unserer Zeit lauten „Bleib zuhause“ und „Bleib sicher“, als wenn die Mehrheit der Bevölkerung, die über keinerlei soziale und finanzielle Absicherungen verfügt, solch eine Option hätte. Von Frauen wiederum wird einmal mehr Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft erwartet, indem sie die Aufgaben, die der Staat von sich geworfen hat, übernehmen: sich zu Hause um Kinder und Haushalt kümmern, also sich erneut zur unbezahlten Hausangestellten degradieren zu lassen. Nur wenige Wochen nach dem diesjährigen 8. März, an dem das Streben der Frauen nach einem freien Leben das patriarchale System wie eine Ohrfeige getroffen hat, nutzt das Patriarchat die Gunst der Stunde, um Frauen wieder an Herd und Heim zu fesseln. In diesem Zusammenhang ist es natürlich kein Zufall, dass in dieser Zeit der Pandemie häusliche Gewalt und Morde an Frauen stark zugenommen haben.“

Doch kämpfende Frauen geben ihren Widerstand nicht auf und rufen in einem transnationalen feministischen Manifest dazu auf, Kämpfe zu verbinden und kreative, solidarische Formen des Protests und der Organisierung zu finden. Ein von den zapatistischen Frauen initiiertes Netzwerk der „Frauen, die kämpfen“ einberufenes Online-Treffen war so voll, dass nicht alle daran teilnehmen konnten und deshalb viele weitere Treffen geplant werden. Schon bald können die Ergebnisse der kreativen Überlegungen ihren öffentlichen Ausdruck finden. Die Kampagne „Gemeinsam Kämpfen für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie” ruft alle freiheitsliebenden FLINT dazu auf in der Walpurgisnacht den als Hexen verfolgten und aufgrund ihres Frau-Seins ermordeten Frauen zu gedenken und das öffentliche Leben in Städten und Dörfern mit Ausstellungen, Plakaten, Informationen über tolle Frauen und ein alternatives, natürliches und gesellschaftliches Gesundheitsverständnis zu bereichern. Inspiration dafür gibt es reichlich in den Statements von Internationalistinnen in Rojava über ihr Verständnis von Freiheit, dem Aufruf von Kongra Star „solange zu kämpfen, bis jede Frau einen freien Willen erlangt“ oder dem Beitrag der Jineolojî über die Bedeutung von Gesundheit im Aufbau einer freien Gesellschaft. Genau zum richtigen Zeitpunkt konnte aus Jinwar die hoffnungsvolle Nachricht verbreitet werden, dass ein weiterer Schritt gegangen wurde, ein den Bedürfnissen der Gesellschaft und Natur entsprechendes Gesundheitssystem aufzubauen: Die Eröffnung des alternativen Gesundheits- und Heilzentrums Şîfa Jin! „Viele Frauen die bereits gekommen sind, teilen ihr Wissen über Gesundheit und natürliche Medizin, sodass wir gemeinsam mit allen Frauen neue Heilungswege weiterentwickeln und unsere Gesundheit verbessern können.“

Kurz nach Bekanntwerden der Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie überschlug sich die Berichterstattung mit Artikeln, in denen vor der Zunahme von Gewalt gegen Frauen und Kinder gewarnt wurde. Gemeinsam haben die Artikel, dass Frauen darin nur als Opfer vorkommen und Gewalt als ihr Schicksal dargestellt wird. Um einen kollektiven und selbstorganisierten Umgang damit zu finden, hat das Sozialkomitee @TKomite der kurdischen Frauenbewegung in Europa, TJK-E, eine Kampagne begonnen. Viele Komitees und Organisationen der Kurdischen Frauenbewegung in Europa und Netzwerke, denen wir angehören, haben ihren Schwerpunkt verlagert, um als Solidaritätsnetzwerke für Frauen zu fungieren, um Gewalt zu verhindern, anstatt auf sie zu reagieren, und so gegen die Wahrnehmung von Frauen als bloße Opfer ohne jegliche Autorität zu kämpfen. Die lokalen Frauenräte haben Ressourcen für die Einrichtung von Notfall-Hotlines und anderer Unterstützung in Fällen von Gewalt gegen Frauen und Kinder auf kurdisch bereitgestellt. Männer haben sich diesen Bemühungen angeschlossen und erklärt, dass Gewalt gegen Frauen ein Angriff auf die Aussicht auf ein freies Leben und nicht nur ein Problem der Frauen, sondern der Gesellschaft als Ganzes ist. Ziel ist, die Aufmerksamkeit in der Kurdischen Gesellschaft zu schärfen, im Kontakt miteinander zu sein, füreinander da zu sein und so möglichst präventiv Konflikte zu lösen, die in der durch die Corona-Pandemie angespannten wirtschaftlichen und sozialen Lage vermehrt zu Tage treten. Gewalt gegen Frauen kann nur gelöst werden, wenn die Gesellschaft aufmerksam ist, sich einmischt und eine klare Haltung dagegen einnimmt. Im Rahmen der Kampagne WomenDefendRojava wurde zudem in Zusammenarbeit mit YJK-E und Cenî eine Plakatreihe entworfen, die im öffentlichen Raum darauf aufmerksam machen soll, dass Gewalt kein Schicksal ist und durch Selbstorganisierung, Selbstverteidigung und internationalistische Solidarität verhindert werden kann. Auf Anfrage schicken wir euch gerne die Formatvorlagen zum Selbstausdrucken zu! Außerdem wurden in Zusammenarbeit mit UTAMARA Seminare zu den Themen Gewalt gegen Frauen und Feminizid organisiert, um für den Umgang notwendiges Wissen zu kollektivieren und so die Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Um das Thema Selbstverteidigung als Antwort auf geschlechtsspezifische Gewalt und in diesem Zusammenhang den beispielhaften Widerstand der Frauen in Nord- und Ostsyrien noch breiter bekannt zu machen, wurden die bereits erschienen Broschüren von WomenDefendRojava gedruckt. Die Broschüren könnt ihr hier bestellen: ceni_frauen@gmx.de und isku@nadir.org. Die Broschüre zu Selbstverteidigung ist nun auch als Hörbuch verfügbar.

Am 15. April wurde die Ezidin Besma Atinci ermordet, kurdische Frauenorganisationen haben sofort Kontakt mit den Angehörigen aufgenommen, sich ein Bild über die Lage verschafft und eine Erklärung abgegeben. Auch die Kampagne „Gemeinsam kämpfen“ hat in einer Erklärung mit weiteren Frauenorganisationen dazu aufgerufen gegen die patriarchalen Zustände hier und weltweit eine aktive Organisierung aufzubauen. In Hannover wurde der am 8. März neu eingeweihte NonUnaDiMenos-Platz in Hannover dafür genutzt, die Wut über diesen weiteren Frauenmord gemeinsam zum Ausdruck zu bringen und Besma zu gedenken. Da der Täter aufgrund seiner Behauptung, er hätte Besma „aus Versehen“ umgebracht wieder auf freiem Fuß ist, haben verschiedene Frauenorganisationen, Frauenhäuser und -beratungsstellen, Familien von ermordeten Frauen, Rechtsanwältinnen, Journalistinnen einen offenen Brief verfasst, mit dem sie sich gegen diese Vertuschung von Frauenmorden wenden und klar stellen, dass eine solche Praxis eine weitere Gefährdung von Frauen bedeutet. Wer sich dem offenen Brief anschließen möchte oder Vorschläge für Unterzeichner*innen hat, kann sich bei uns melden.

Auch in Rojava laufen die Vorbereitungen zu Corona unter Hochdruck. In Rekordzeit wurden Quarantäne-Stationen aufgebaut, solidarische Hilfe bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Mitteln des täglichen Bedarfs organisiert und die Arbeit der „mala jin“ zur Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen und Kindern der neuen Situation angepasst. Um die Arbeiten in Zeiten der Ausbreitung des Corona-Virus zu unterstützen, ruft die Stiftung der Freien Frau in Syrien, WJAS zu Spenden auf. Sie werden zur Beschaffung von Medikamenten und Schutzausrüstung eingesetzt. Zudem kann damit die Informationskampagne weitergeführt werden, welche die Stiftung für geflüchtete Frauen und Frauen aus ländlichen Regionen, die keinen Zugang zu Informationen haben, gestartet hat. Auch die medizinische Grundversorgung in den Gesundheitszentren sowie die Notversorgung durch die Stiftung wird hiermit unterstützt. Spenden bitte an:

Kurdistan Hilfe e.V.
Bank: Hamburger Sparkasse
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPDEHHXXX
Stichwort: Frauenstiftung

Zuletzt haben wir noch einige Vorschläge, um uns in dieser Zeit auch kulturell und intellektuell weiter zu entwickeln:

Awazê Çiya haben ein neues Album veröffentlicht, in dem sie traditionelle kurdische Lieder aus der Region Botan nach einer langjährigen Recherche und intensiven Auseinandersetzung auf wundervolle Weise wieder zu neuem Leben erwecken.

Des weiteren ist das Buch zum ersten Jineolojî-Bildungscamp in Deutschland, das im September 2018 stattfand, erschienen. Es enthält Beiträge über die Geschichte des Matriarchats in Mitteleuropa, matriarchale Mythologie und Hexenverfolgung, Gendergerechtigkeit, zur Verknüpfung von Patriarchat, Kapitalismus und (National-)Staat und der deutschen Nationalstaatsgründung, dem deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus, Fragen zum Individualismus und Organisierung sowie praktisch nutzbares Kräuterheilwissen. Bestellt werden kann das Buch hier: jineolojide@riseup.net und isku@nadir.org. Ebenso ist das im Oktober 2019 gegründete Jineolojî-Komitee unter obiger Adresse ansprechbar für Anfragen und Interessentinnen, die gerne mitarbeiten möchten.

Mit Mythologie beschäftigen sich auch die jungen kurdischen Frauen. Sie haben dazu die Kampagne „Erzählt uns keine Märchen!“ gestartet. Sie befasst sich mit den in unserem Bewusstsein tief verankerten Erzählungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Auf dem twitter Account @DontFairytales erscheinen regelmäßig Videoepisoden, die auf unterhaltsame Art und Weise diese Märchen und wie sie unser Wissen prägen, dechiffrieren.

Mit kämpferischen Grüßen,

Cenî Frauen

CENÎ Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Kurdish Women’s Office for Peace
Buroya Aşitıyê ya Jinên Kurd Düsseldorf

www.ceni-kurdistan.com